Was bedeutet Konsens der Gelehrten (Idschmâ) und welchen Platz hat dieser im Islâm? Wie kann er in unserem Zeitalter angewandt werden? Wie können bei widersprüchlichen Belegen Urteile abgeleitet werden?
Der Lobpreis gebührt Allâh und möge Allâh Seinen Gesandten sowie dessen Familie und Gefährten in Ehren halten und ihnen Wohlergehen schenken!
Allâh hat diese Gemeinschaft begnadet und sie vor anderen Gemeinschaften durch folgende Punkte ausgezeichnet: Der Konsens (Übereinstimmung) unter den Gelehrten in einer religiösen Frage ist vor Fehlern geschützt. Allâh der Erhabene bewahrt durch die Übereinstimmung der Gelehrten die Scharîa vor Intrigen durch missgünstige Personen und vor der Entstellung durch Irregeleitete.
Az-Zarkaschî schreibt in „Al-Bahr Al-Muhît“ (4/449): „Das Geheimnis hinter der Tatsache, dass diese Gemeinschaft durch den Idschmâ stets das Richtige trifft, ist, weil sie die wahre Gemeinschaft ist. Der Prophet (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) wurde zu allen Menschen entsandt, während die Propheten vor ihm immer nur zu einem bestimmten Volk kamen. Sie waren immer nur ein Teil des Ganzen und so galt für jede Gemeinschaft, dass die Mu‘minûn nicht auf diese Gemeinschaft in einem einzigen Zeitalter beschränkt waren. Doch bei dieser Umma (des Islâms) kommen Mu‘minûn nur unter ihnen vor und die Hand Allâhs ist mit der Gemeinschaft. Daher hat Allâh sie mit dem zutreffenden Urteil ausgestattet. Und Allâh weiß es am besten.“
Zur sprachlichen Bedeutung von Idschmâ: Es ist ein mehrdeutiger Begriff, der sprachlich auf zwei Weisen verwendet wird:
1) Entschlossenheit bei einer Sache. Daher sagt man: „Der Soundso entschloss sich (adschma‘a) zu verreisen.“ Dazu gehört auch das Wort Allâhs des Erhabenen: „So einigt euch über eure Angelegenheit, ihr und eure Teilhaber“ (Sûra 10:71)
2) Übereinstimmung, Übereinkunft. Man sagt: „Die Leute kamen in Folgendem überein (adschma‘a; d. h. ittafaqû).“
Beide Bedeutungen stammen vom Wort „Al-Dscham“ (Sammeln, Verbinden). Bei der Bedeutung „Entschlossenheit“ sammelt man seine Gedanken und Einfälle. Bei der Bedeutung „Übereinstimmung“ werden die verschiedenen Meinungen der Leute gebündelt. Siehe dazu „Scharh Musallam At-Thubût“ 2/211. Über die sprachliche Bedeutung: „As-Sihâh“ 3/1198, „Mudscham Maqâyîs Al-Lugha“ 1/479.
Die Usûl-Gelehrten haben unterschiedliche Auffassungen über die Definition von Idschmâ als Fachbegriff. Dies folgt aus ihren unterschiedlichen Zugängen zu Fragen des Idschmâ im Zusammenhang mit seinen Grundprinzipien, Bedingungen und Urteilen.
Die gewöhnlich gewählte Definition lautet: „Übereinstimmung der Mudschtahidûn- Gelehrten dieser Umma nach dem Ableben des Gesandten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) in einem bestimmten Zeitalter in irgendeiner Frage“ (Vgl. „Dscham Al-Dschawâmi“ 1/176, mit Kommentar von Al-Bannânî). Diese Definition wurde von vielen Gelehrten gewählt.
Damit sie jedoch klar wird, muss sie kommentiert werden und mögliche Einwände müssen aufgezeigt werden. Übereinstimmung (Ittifâq) bedeutet: „Gemeinsamkeit in einer Meinung oder Glaubensüberzeugung, egal ob alle darauf gemeinsam mit ihren Worten verweisen oder mit ihren Handlungen. Auch kann dies durch die wörtliche Äußerung einiger und die Handlungsweise anderer unter ihnen geschehen. All dies wird „offenkundiger Konsens“ (Al-Idschmâ As-sarîh) genannt. Wenn dies durch die wörtliche Äußerung oder Handlung einiger von ihnen geschieht, während andere dazu schweigen, so wird es „Konsens durch schweigende Zustimmung“ (Al-Idschmâ As-Sukûtî) genannt. Damit umfasst diese Definition zwei Formen von Konsens: Den offenkundigen und den mit schweigender Zustimmung.
Zum Ausdruck „Mudschtahidûn-Gelehrten dieser Gemeinschaft“: Ein Mudschtahid ist ein Gelehrter, der seine möglichste Anstrengung unternimmt, um die wahrscheinliche Bedeutung eines Scharîa-Urteils abzuleiten, bis er merkt, dass er nicht mehr leisten kann.
„Umma“ bedeutet eine Gruppe von Menschen, die durch eine Verbindung zusammengehalten werden. Gemeint ist hier die Gemeinschaft Muhammads (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken), also seine Anhänger, die Mu‘minûn (die tiefen Îmân – Verinnerlichung an ihn – haben), egal in welchem Zeitalter sie leben. Dies ist die Gemeinschaft, die (das göttliche Wort) angenommen hat und nicht die Gemeinschaft, die der Da‘wa unterliegen und zum Islâm aufgerufen werden sollten.
Aus der Übereinstimmung der Mudschtahid-Gelehrten dieser Gemeinschaft fällt Folgendes heraus:
1) Die Übereinstimmung der einfachen Muslime und der Nachahmer (die durch Taqlîd nachahmen und einem Gelehrten folgen; AdÜ). So etwas gilt nicht als scharîakonformer Idschmâ.
2) Die Übereinstimmung nur eines Teils der Mudschtahid-Gelehrten gilt ebenfalls nicht als Idschmâ.
3) Die Übereinstimmung der Mudschtahidûn in einer anderen Gemeinschaft (bzw. Religion; AdÜ).
Die Gültigkeit einer Übereinsimmung der Gelehrten beginnt erst nach dem Tod des Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken). Al-Âmidî sagte: „Der Idschmâ derjenigen, die zum Zeitpunkt der Herabsendung (des Qurâns) anwesend waren, galt in dieser Zeit konsensmäßig nicht als Beleg. Der Idschmâ ist nur ein Beleg in der Zeit nach dem Tode des Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken)“ (Al-Ihkâm li Al-Âmidî 1/901).
Die Aussage „in einem Zeitalter“ bedeutet dass es sich um eine Übereinstimmung in irgendeinem Zeitalter handeln kann. Dies gilt folgendermaßen: Es ist die Zustimmung der Mudschtahidûn in irgendeiner Zeit, egal ob zur Zeit der Prophetengefährten oder später.
Dadurch wird die falsche Vorstellung entkräftet, dass es sich nur dann um einen gültigen Idschmâ handele, wenn die Übereinstimmung aller Mudschtahidûn in allen Zeitaltern vorliegt – denn das ist unmöglich. (Vgl. „Al-Ihkâm li Al-Âmidî“ 1/196, „Hâschiya Al-Bannânî alâ Al-Muhallâ“ 1/176).
Mit der Formulierung „in welcher Frage/Angelegenheit auch immer“ ist das Urteil gemeint, auf das sich die Mudschtahidûn geeinigt haben. Es umfasst
1) religiöse Angelegenheiten: rituelles Gebet, Auslegung eines Qurân-Verses oder eines Hadîths o. ä.
2) weltliche Angelegenheiten: Organisation von Streitkräften, Kriegsführung, Angelegenheiten der Staatsbürger usw.
3) rationale Angelegenheiten: Zum Beispiel die Frage nach der Entstehung der Welt
4) Sprachwissenschaftliches: Verwendung der Konjunktion „fa“ für eine Reihung oder Abfolge („also, demnach“).
In einigen Definitionen werden die Angelegenheiten, in denen Übereinstimmung erzielt werden kann, eingeschränkt auf religiöse Angelegenheiten. Man kann jedoch die allgemeinere (breitere) mit der spezielleren Ansicht verbinden, wenn man sagt, dass das Allgemeine durch weltliche, linguistische oder rationale Urteile erfasst wird und dass diese Urteile sich wiederum auf ein Scharîa-Urteil beziehen. Der Idschmâ wäre in diesem Bereich nicht ein Selbstzweck, sondern gilt für etwas, was daraus zwingend abgeleitet wird.
Bei denjenigen Gelehrten, die die speziellere (eingeschränkte) Ansicht vertreten, werden die religiösen Angelegenheiten so verstanden, dass sie sich auf das Allgemeinste unter den Scharîa-Geboten beziehen. Dies umfasst diese Gebote und alles, was notwendigerweise damit verbunden ist (an weltlichen Angelegenheiten; AdÜ).
Für Rang und Wert des Idschmâ gilt: Idschmâ ist ein eindeutiger und berechtigter Teil der Religion Allâhs, eine wichtige Grundlage der Religion und eine Quelle der Scharîa. Er leitet sich aus dem edlen Buch Allâhs und der Sunna seines Gesandten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) ab und folgt diesen an Rang und Bedeutung.
Al-Qâdî Abû Ya‘lâ (Allâh erbarme sich seiner) schreibt: „Der Idschmâ ist eindeutig ein Beleg, den man einzusetzen hat. Es ist verboten, sich gegen diesen Konsens zu stellen und die Umma darf sich nicht auf einen Fehler einigen“ („Al-Udda“ 4/1058).
Wer nach der Wahrheit strebt, dem Weg der Gemeinschaft der Mu‘minûn folgt und sich hütet, sich Allâh und Seinem Gesandten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) zu widersetzen, hat unbedingt zu wissen, in welcher theoretischen oder praktischen Angelegenheit der Scharîa die Muslime einen Konsens haben. Dies, damit er seinen rechtschaffenen Vorfahren folgt, ihren Weg einschlägt und nicht in die Falle derjenigen tappt, die nicht dem Weg der Mu‘minûn folgen. Denn somit würde auf ihn die deutliche Androhung im Worte Allâhs des Erhabenen zutreffen: „Wer aber dem Gesandten entgegenwirkt, nachdem ihm die Rechtleitung klargeworden ist, und einem anderen Weg als dem der Gläubigen folgt, werden Wir dem zukehren, dem er sich zugekehrt hat, und ihn der Hölle aussetzen, und (wie) böse ist der Ausgang!“ (Sûra 4:115).
Ibn Hazm (Allâh erbarme sich seiner) sagte: Wer gegen ihn – den Konsens – verstößt, nachdem er davon erfahren hat oder man ihm ein Argument vorgetragen hat, auf den trifft die Androhung zu, die in diesen Vers erwähnt wird (vgl. Ibn Hazm: „Marâtib Al-Idschmâ“, S. 7).
Der Rang des Idschmâ unter den Scharîa-Quellen folgt dem Rang von Qurân und Sunna. Das ist die Auffassung der rechtschaffenen Vorfahren, wie es Schaich Al-Islâm Ibn Taimiya (Allâh erbarme sich seiner) bestätigt hat. Er leitete dies aus klaren Überlieferungen über sie ab. Unter anderem sind dies:
Was im Schreiben von Umar (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) an Schuraih überliefert wird, wo er ihm sagt: „Richte nach dem, was im Buche Allâhs ist. Wenn du (darin) nichts findest, so nach dem was in der Sunna des Gesandten Allâhs. Wenn du (darin) nichts findest, so nach dem, was die Rechtschaffenen vor dir entschieden haben.“ In einer Überlieferung heißt es: „... nach dem worin die Menschen im Konsens (Idschmâ) waren“ (Überl. Abû Schaiba: „Al-Mushaf“ 7/240, Al-Baihaqî 10/115, und An-Nasâî 8/231).
Schaich Al-Islâm kritisierte einige der späteren Gelehrten, die meinten: „Der Mudschtahid beginnt, indem er zuerst auf den Konsens schaut. Wenn er einen solchen ausfindig macht, dann wendet er sich keiner anderen Auffassung zu. Falls er einen Text findet, der diesem Konsens widerspricht, so geht er davon aus, dass dieser Text durch einen anderen abrogiert sein muss, der ihm nicht vorliegt. Er zitierte auch einige, die meinten: „Der Konsens selbst abrogiert einen Textbeleg. Diese Auffassung wies Ibn Taimiyya jedoch als Irrtum zurück und entschied sich für die Vorgehensweise der frühen Muslime (Salaf), da diese die richtige ist“ („Al-Fatâwâ“ 9/200, 201).
Auch sagte Schaich Al-Islâm: „Als diese Zeit zu Ende ging und die späteren Gelehrten an die Reihe kamen, verfolgten sie eine komplett andere Richtung, indem sie sagten: „Wenn einem Muftî oder Herrscher ein Fall vorgelegt wird, so soll er zuerst schauen, ob es hierzu eine Meinungsverschiedenheit gibt oder nicht. Falls keine Meinungsverschiedenheit vorliegt, so schaut er nicht in den Qurân und die Sunna sondern gibt seine Fatwâ und urteilt darin nach dem Konsens. Falls jedoch eine Meinungsverschiedenheit vorliegt, so bemüht er sich um die Aussage, welche dem Beleg am nächsten kommt, erteilt seine Fatwâ und urteilt demnach. Doch dies widerspricht der Aussage im Hadîth von Muâdh (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) in der Überlieferung von Ahmad (5/230, 242), sowie dem Schreiben von Umar und den Aussagen der Prophetengefährten.“
Er (Allâh erbarme sich seiner) stellte klar, dass es weitaus leichter ist, die Textbelege zu kennen und darüber Bescheid zu wissen, als einen Idschmâ zu kennen. Denn möglicherweise hatten die Menschen eine Meinungsverschiedenheit, von der er nichts weiß. Und das Nichtwissen über eine umstrittene Sache ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Wissen, dass ein solcher Streitfall nicht vorgelegen hat. Wenn dies so ist, wie kann man dann zu einer Vorgehensweise übergehen, die noch schwieriger ist, wo wir über etwas verfügen, das leichter ist und deutlicher zur Wahrheit leitet?
Ebenso erklärte er: Als diese Methode eingeführt wurde, kam es zu Widersprüchen gegen die Textbelege durch einen „nicht erkannten“ Konsens. Dadurch würde das Tor für schiere Behauptungen geöffnet. Es traten Leute unter den einfachen Nachahmern auf, die von einer diesbezüglichen Meinungsverschiedenheit keine Ahnung hatten, und wenn man ihnen Argumente aus dem Qurân und der Sunna vorlegte, antworteten sie: „Aber das widerspricht dem Konsens!“ Doch die großen Imâme des Islâms hatten diese Vorgehensweise abgelehnt und in jeglicher Weise denjenigen getadelt, der so etwas tut und den der Lüge bezichtigt, der so etwas behauptet. All dies hat Ibn Qayyim von ihm berichtet (vgl. „Ilâm Al-Muwaqqi’în“ 2/237).
Der Konsens besteht aus zwei Arten. Schaich Al-Islâm sagte dazu: „Es gibt zwei Arten von Konsens:
- Offenkundiger (qatî) Konsens: Es ist unmöglich, dass ein offenkundiger Konsens bekannt wäre, der im Widerspruch zu einem Textbeleg stünde.
- Der „vermutete Konsens“: Dies ist ein Konsens, der durch Forschung/Analyse und
Induktion gewonnen wird. Dies geschieht, indem man die Worte der Gelehrten induktiv untersucht und darin keine Meinungsverschiedenheit findet oder sich eine Aussage weit verbreitet und keiner einen Textbeleg dazu kennt. Hier ist die Belegkraft nur vermutet und man kann sich nicht auf seine Gültigkeit verlassen. Denn man kann nicht etwas als klar annehmen, nur weil es keine gegenteilige Aussage dazu gibt. Wenn das Gegenteil eindeutig nicht zutrifft, so ist auch der Konsens eindeutig, und wenn die Nichtexistenz (des Gegenteils) nur vermutet wird, so kann es nicht als eindeutig bezeichnet werden. Demnach ist es ein vermuteter Beleg. Durch eine Vermutung kann kein bekannter (und anerkannter) Text zurückgewiesen werden. Man argumentiert vielmehr mit dem Text und zieht diesen allem vor, was durch seinen Vermutungscharakter (belegmäßig) noch niedriger steht. Es wird jedoch eine Vermutung vorgezogen, wenn diese stärker sein sollte. Wenn eine Vermutung über die Bedeutung eines Textes stärker ist als die Vermutung, dass ein Konsens vorläge, so wird der (vermuteten) Bedeutung des Textes der Vorzug gegeben. Und wenn die Vermutung eines Konsenses stärker ist, so wird dieser vorgezogen. In der gleichen Angelegenheit trifft nur einer das Wahre.
Nachdem wir den Rang des Konsenses in der Religion beschrieben haben, ist es passend, die wichtigsten Vorteile aufzuzählen, wie sie sich nach den Gelehrten aus dem Konsens ergeben. Zu den Beweggründen für diese Aufzählung gehört nämlich:
Man kann dadurch Einwänden entgegentreten, die manchmal zu Verwirrung führen: Worin liegt der Nutzen des Konsenses? Was ist wirklich das Neue darin, wenn es ohnehin zu den Bedingungen des Konsenses gehört, dass er sich auf Belege aus Qurân und der Sunna stützten muss und es gar nicht möglich ist, dass sich die Gemeinschaft der Muslime auf etwas einigt, was im Widerspruch zu diesen Texten steht und es ebenso unmöglich ist, dass ein Konsens einen Text abrogiert?
Die Gelehrten haben hierauf geantwortet und die wichtigsten Vorzüge des Konsenses aufgezählt. Im Folgenden eine Zusammenfassung aus dem Werk „Nadhra fi Al-Idschmâ Al-Usûlî“ (S. 73 ff.):
Erster Vorzug: Der Konsens über das, was von der Religion notwendigerweise bekannt ist, zeigt das Ausmaß der Angelegenheiten, über die diese Gemeinschaft Einstimmung erzielt hat. Somit können die Anhänger abweichender und irregeleiteter Ansichten die Religion der Muslime nicht entstellen. Wer den Zustand der früheren Gemeinschaften der Schriftbesitzer und anderer betrachtet und sieht, wie stark sie in den praktischen und theoretischen Grundlagen der Religion uneins waren, der erkennt die gewaltige Gnade, die dieser Gemeinschaft zuteilgeworden ist. Die Gelehrten der Religion sind sich konsensmäßig einig über Hunderte von Grundlagen der Religion und dies sogar in Einzelheiten, so dass hier kein einziger Muslim etwas Abweichendes vertritt. Wer davon Wissen erlangt und trotzdem abweicht, wird als jemand eingestuft, der sich in Kufr, Abweichung und Frevel befindet.
Zweiter Vorzug: Das Wissen über die Angelegenheiten, worin diese Gemeinschaft einen Konsens hat, schenkt dem Einzelnen vollständiges Vertrauen in diese Religion. Es bringt die Herzen der Muslime zusammen und verschließt das Tor zu abwegigen Behauptungen solcher, die meinen, die muslimische Gemeinschaft besäße in allen Angelegenheiten Meinungsunterschiede und würde durch nichts Verbindendes zusammengehalten werde.
Dritter Vorzug: Die Überlieferungskette, auf der der Konsens beruht, mag nur vermutet sein. In einem solchen Fall wird der Konsens zur Ursache dafür, dass der Rang eines vermuteten Textbelegs und eines abgeleiteten Urteils den Rang eines eindeutigen Belegs erhält. Denn der Konsens belegt, dass es keine Überlieferung vom Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) geben kann, die dem widerspricht, worauf die Muslime einen Konsens erlangt haben.
Eine Reihe von Texten weist auf die Belegkraft des Konsenses hin, von denen wir einige zitieren:
Beleg 1: Das Wort Allâhs: „Wer aber dem Gesandten entgegenwirkt, nachdem ihm die Rechtleitung klargeworden ist, und einem anderen Weg als dem der Gläubigen folgt, werden Wir dem zukehren, dem er sich zugekehrt hat, und ihn der Hölle aussetzen, und (wie) böse ist der Ausgang!“ (Sûra 4:115). Der erste, der aus diesem Vers (die Bedeutung des Idschmâs) ableitete, war As-Schâfiî (Allâh erbarme sich seiner); dann folgten ihm andere bei dieser Argumentation.
Aus dem Vers kann Folgendes geschlussfolgert werden: Unter „Entgegenwirken gegen den Gesandten“ ist zu verstehen, dass man ihn ablehnt und gegen das streitet, was er von seinem Herrn berichtet hat. Der Ausdruck „Weg der Gläubigen“ (Sabîl Al-Mu‘minîn) bedeutet das, was sie für sich selbst als Weg gewählt haben, seien es Worte, Taten oder Glaubensüberzeugungen. Das Wort steht im Singular in einer Genitivverbindung und umfasst all das Genannte. Allâh hat die Wiedergesetzlichkeit („Entgegenwirken“) gegenüber dem Gesandten und das Einschlagen eines anderen Wegs als den der Gläubigen zu einem Grund für Bestrafung gemacht. Beide Satzteile wurden durch die Konjunktion „und“ verbunden, daher gilt für sie die gleiche Beurteilung. So wie es verboten ist, einem anderen Weg als dem der Gläubigen zu folgen, so ist es genauso verboten, sich dem Gesandten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) zu widersetzen.
Beleg 2: Das Wort des Erhabenen: „Und so haben Wir euch zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht, damit ihr Zeugen über die (anderen) Menschen seiet und damit der Gesandte über euch Zeuge sei“ (Sûra 2:143). Aus diesem Vers folgt: Allâh, segensreich und erhaben ist Er, hat die Muslime durch ihr Bekenntnis gleichgestellt. Da das Wort „Zeuge“ eine Belegkraft enthält, muss man dementsprechend handeln. Denn es hätte keine Bedeutung, das Zeugnis von jemandem zu akzeptieren, wenn sein Wort keine Belegkraft aufwiese. Das weist darauf hin, dass der Idschmâ der Gemeinschaft von Belegkraft ist und man sich danach richten muss, und genau das wird im genannten Vers gefordert.
Beleg 3: Allâh sagt: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche (...)“ (Sûra 3:110). Daraus ist abzuleiten: Steht der arabische Artikel „Al-“ bei einem Kollektivbegriff, weist er auf etwas Allgemeines hin. Daher beschreibt hier Allâh die Gemeinschaft Muhammads (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) so, dass sie alles Gute gebietet und sie von jedem Übel abhält. Weil jede Beschreibung Allâhs wahr und richtig ist, bedeutet dies zwangsläufig, dass wenn sie eine Sache verbieten, diese auch schlecht sein muss. Und immer wenn sie etwas befehlen, erfahren wir daraus, dass es sich um eine gute Sache handelt. Damit enthält ihr Verbieten und Gebieten von Angelegenheiten eine Belegkraft, nach der man sich richten muss.
Beleg 4: Allâhs Wort: „O die ihr glaubt, gehorcht Allâh und gehorcht dem Gesandten und den Befehlshabern unter euch! Wenn ihr miteinander über etwas streitet, dann bringt es vor Allâh und den Gesandten, wenn ihr wirklich an Allâh und den Jüngsten Tag glaubt. Das ist am besten und am ehesten ein guter Ausgang“ (Sûra 4:59).
Abzuleiten ist daraus: Wenn man etwas pflichtmäßig auf das Buch Allâhs und die Sunna zurückzuführen soll, so hat Allâh es zur Vorbedingung erklärt, dass hier eine Streitigkeit vorliegen muss. Das bedeutet, dass man eine Angelegenheit nicht (auf die beiden Quellen) zurückführen muss, wenn gar keine Meinungsverschiedenheit vorliegt. Deshalb ist die Übereinstimmung der Muslime (in dieser Angelegenheit) ausreichend, und man muss nicht auf den Qurân und die Sunna zurückgreifen. Nur so hat der Idschmâ Bedeutung. Dieser Beleg steht nicht in Einklang mit der oben ausgeführten Aussage von Schaich Al-Islâm.
Beleg 5: In einer Reihe von Hadîthen wird auf die Bedeutung der Gemeinschaft hingewiesen und diese enorm gewürdigt. Diese Hadîthe zeigen, dass die Gemeinschaft vor Fehlern (im Verständnis der Religion; AdÜ) geschützt ist. Darunter sind:
a) Das Wort des Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken): „Eine Gruppe in meiner Gemeinschaft wird weiterhin offenkundig auf der Wahrheit sein, bis der Befehl Allâhs eintritt und sie siegreich sind“ (Al-Buchârî 13/293).
b) „Wer sich eine Handbreit von der Gemeinschaft trennt, der hat die Verbindung zum Islâm von seinem Nacken gestreift“ (Ahmad).
c) „Wer sich von der Gemeinschaft trennt, der stirbt den Tod der Dschâhiliyya (Zeit der Unwissenheit vor dem Islâm; AdÜ)“ (Al-Buchârî, Muslim).
Aus diesen und anderen Hadîthen ergibt sich: Auch wenn nicht jeder dieser Hadîthe im Wortlaut mutawâtir (vielfach überliefert; AdÜ) ist, so gibt es doch ein gemeinsames Element zwischen allen – die Tatsache, dass diese Gemeinschaft geschützt wird – und dieses ist mutawâtir, weil es in allen (Varianten dieser Hadîthe) vorkommt. Und wenn der Schutz dieser Umma (vor Fehlgehen) mutawâtir überliefert ist, so ist dies ein Hinweis auf die Belegkraft des Idschmâs.
Mit dem Thema Idschmâ sind noch weitere Fragen verbunden, auf die in dieser Fatwâ nicht eingegangen werden kann. Diese sind in den einschlägigen Büchern der Usûl-Wissenschaft nachzulesen. Wir wollen uns jedoch einem Thema zuwenden, das im Zusammenhang mit der dritten Frage steht, und zwar: Ist es überhaupt möglich, dass sich ein Konsens so einstellt, wie wir es behandelt haben?
Unter den Gelehrten gibt es keine Meinungsverschiedenheiten darüber, dass ein Konsens in allen Beurteilungen der Religion vorliegt, die sich auf das notwendigerweise in der Religion zu Wissende beziehen. Meinungsverschiedenheiten gibt es nur über das Vorliegen eines Konsenses bei Regeln und Urteilen, die auf vermutetem Wissen (dhannî) aufbauen.
Die erste Ansicht hierzu lautet: Es kann möglich sein, dass in diesem Bereich ein Konsens erzielt wird. Diese Auffassung vertritt die Mehrheit der Gelehrten, und sie ist die korrekte. Nichts ist ein stärkerer Hinweis für das Auftreten eines solchen Konsenses als das Vorliegen all der vielen Beispiele. So herrscht ein Konsens darüber, dass Schulden vor einer testamentarischen Verfügung zu begleichen sind. Ebenso gilt nach dem Konsens das Fett des Schweines genauso als harâm wie sein Fleisch. Auch herrscht ein Konsens dahingehend, dass Wasser nicht für die Gebetswaschung verwendet werden kann, wenn sich durch eine Unreinheit eine seiner drei Eigenschaften (Farbe, Geschmack, Geruch) verändert hat.
Nach der zweiten Ansicht ist ein solcher Konsens unmöglich. Diese Ansicht vertraten der mu‘tazilitische Gelehrte An-Naddhâm, Imâm Al-Harâmain und viele zeitgenössische Gelehrte. Die Anhänger dieser Ansicht argumentieren damit, dass sich die Gelehrten, die einen Konsens vertreten könnten, (in der Frühzeit) in alle Weltgegenden, nach Ost und West, ausgebreitet haben. Weil sie so verteilt sind, stellt dies gewöhnlich ein Hindernis dafür dar, dass ihre Beurteilungen überliefert bzw. ihnen vorgetragen werden. Wenn es unmöglich ist, dass ihre Urteile (allen anderen) berichtet werden, so verhindert dies eine Übereinstimmung in einer bestimmten Beurteilung. Hier kann erwidert werden, dass die für den Konsens relevanten Gelehrten von geringer Anzahl sind und die wichtigsten unter ihnen bekannt sind. Das sind die Mudschtahidûn-Gelehrten und daher ist es durchaus möglich, dass ein Vorfall allen von ihnen berichtet wird und ihre diesbezügliche Ansicht in Erfahrung gebracht wird.
Von Imâm Ahmad stammt eine bekannte Aussage: „Wer einen Konsens behauptet, der sagt die Unwahrheit.“
Doch hiermit ist nicht gemeint, dass die Möglichkeit eines Konsenses insgesamt oder seine Beweiskraft geleugnet würden, da Imâm Ahmad sehr wohl mit dem Konsens argumentierte und häufig daraus Urteile ableitete. Die Gelehrten haben seine Aussage auf verschiedene Weisen gedeutet, worunter die beste folgende ist: Er äußerte dies aus Vorsicht und frommer Zurückhaltung. Denn es kann wohl eine Meinungsverschiedenheit geben, die ihm nicht bekannt war. Oder möglicherweise tätigte er diese Aussage in Bezug auf jemanden, der kein Wissen über die unterschiedlichen Ansichten der rechtschaffenen Vorfahren hatte. Auf diese Möglichkeit deutet nämlich der Zusatz zu dem obigen Zitat hin, in dem er sagte: „Wer einen Konsens behauptet, der sagt die Unwahrheit, denn möglicherweise hatten die Menschen (i. S. von Gelehrten; AdÜ) eine Meinungsverschiedenheit. Dies ist die falsche Behauptung von Bischr Al-Marîsî and Al-Asamm. Man soll vielmehr sagen ‚Ich weiß nicht, ob die Menschen (hierzu) Meinungsverschiedenheiten hatten‘, falls einen dazu nichts (an Überlieferungen) erreicht hat.“
Ibn al-Qayyim sagte: „Imâm Ahmad meint hiermit nicht, dass das Zustandekommen eines Konsenses unmöglich sei. Imâm Ahmad und die Hadîth-Gelehrten wurden nur viel mit solchen Personen heimgesucht, die die authentische Sunna mit dem Argument verwarfen, dass die Menschen konsensmäßig eine gegenteilige Auffassung vertreten hätten“ („Al-Muswadda“, S. 316, „Madschmû Al-Fatâwâ“ 19/271, 20/247, „Muchtasar As-Sawâ’iq“ S. 506).
Wo dies nun feststeht, so ist ein Idschmâ in diesem Zeitalter durchaus möglich, wenn die wissenschaftlichen Institutionen in den islâmischen Ländern sich dieser Angelegenheit annehmen und die Auffassungen ihrer Mudschtahidûn zu einem Ereignis in Erfahrung bringen. Wenn die Auffassungen all dieser Gelehrten in einer einzigen Beurteilung übereinstimmen, so ist dies ein Idschmâ. Diese konsensmäßige Beurteilung ist damit ein Scharîa-Urteil und die Muslime sind verpflichtet, diesem zu folgen. Doch bekanntlich ist es fast unmöglich, dass diese Stellen die Ansichten der Mudschtahidûn einholen, wenn viele Regierungen ohnehin keine Bemühung bei der Umsetzung der Scharîa-Gebote zeigen.
Wie ist nun ein Urteil abzuleiten, wenn die Belege untereinander widersprüchlich sind? Hier haben die Gelehrten wissenschaftliche Kriterien aufgestellt, um ein Kollidieren der Belege zu vermeiden. Darunter zählen:
1) Die Textbelege müssen durch eine Methode, wie sie bei den Gelehrten der Usûl-Wissenschaft anerkannt ist, in Einklang gebracht werden.
- Allgemeines muss auf Spezifisches bezogen werden (Al-Âmm, Al-Châss),
- Unbestimmtes auf Bestimmtes (Al-Mutlaq, Al-Muqayyad),
- Unklares auf Aufklärendes (Al-Mudschmal, Al-Mubayyin),
- Mehrdeutiges auf Eindeutiges (Al-Muhkam, Al-Mutaschâbih).
- Abrogierende und abrogierte Belege müssen bekannt sein usw.
2) (Bei widersprüchlich erscheinenden) Belegen muss einer bevorzugt werden, mit einer von den Usûl-Gelehrten angeführten Methode. Dies wird angewandt, wenn die Belege nicht in Einklang gebracht werden können.
3) Wenn die Belege weder in Einklang gebracht noch einer von beiden bevorzugt werden kann, so hat sich der Gelehrte zurückzuhalten, bis ihm die Angelegenheit klar wird.
Und Allâh weiß es am besten!
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