Die dunkelste Stunde und das Anbrechen der Morgendämmerung

27/05/2019| IslamWeb

Laut einem bekannten Sprichwort kommt kurz nach der dunkelsten Stunde die Dämmerung. Und obwohl astronomisch betrachtet der dunkelste Zeitpunkt wesentlich früher ist, so ist die Wahrheit dieses Sprichwortes zwar metaphorisch – jedoch keineswegs weniger richtig.

Sehr oft stellen wir fest, dass auf die dunkelsten Momente in unserem Leben die kostbarsten folgen. Oft geschieht es in einem Augenblick, in dem alles zerbrochen scheint, dass uns etwas völlig Unerwartetes Auftrieb gibt und durchbringt. Verlor nicht Hiob nach und nach alles, bevor ihm alles und noch mehr zurückgegeben wurde?

Ja! Für den Propheten Hiob war es wirklich Nacht. Und für viele von uns scheint sie ewig anzudauern. Doch Allâh lässt keine endlosen Nächte zu. In Seiner Barmherzigkeit schenkt Er uns die Sonne. Dennoch gibt es Momente, in denen wir empfinden, dass unsere Nöte nicht nachlassen. Einige von uns fallen womöglich in ein derartig spirituelles Glaubenstief, dass sie empfinden, weit entfernt von ihrem Schöpfer zu sein. Und für einige von uns könnte es so dunkel sein, dass sie es nicht einmal bemerken.

Doch genauso wie die Sonne am Ende der Nacht aufgeht, kommt auch unser Tagesanbruch. In Seiner unendlichen Barmherzigkeit schickt Allâh das Licht des Ramadân, um die Nacht zu beenden. Er schickt den Monat des Qurân, damit Er uns erhöht und uns aus unserer Vereinsamung in Seine Nähe bringt. Er schenkt uns diesen gesegneten Monat, um unsere Leere zu füllen, unsere Einsamkeit zu heilen, und die Armut unserer Seelen zu beenden. Er schickt uns die Dämmerung, damit wir aus der Dunkelheit ins Licht finden. Allâh sagt: „Er ist es, Der über euch den Segen spricht - und auch Seine Engel -, damit Er euch aus den Finsternissen ins Licht hinausbringt; und Er ist zu den Gläubigen Barmherzig“ (Sûra 33:43).

Und diese Barmherzigkeit erstreckt sich auf alle, die sie begehren. Selbst dem hartgesottensten Sünder wird empfohlen, niemals die Hoffnung auf Allâhs unendliche Barmherzigkeit zu verlieren. Allâh sagt im Qurân: „Sag: O Meine Diener, die ihr gegen euch selbst maßlos gewesen seid, verliert nicht die Hoffnung auf Allâhs Barmherzigkeit. Gewiss, Allâh vergibt die Sünden alle. Er ist ja der Allvergebende und Barmherzige“ (Sûra 39:53).

Allâh ist der Besitzer von Barmherzigkeit und zu keiner Zeit werden wir mit dieser Barmherzigkeit mehr überschüttet als im gesegneten Monat Ramadân. Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) soll angeblich über den Ramadân gesagt haben: „Sein Anfang ist Barmherzigkeit, seine Mitte ist Vergebung und sein Ende ist Befreiung vom Höllenfeuer“ (Ibn Chuzaima, jedoch inakzeptabel).

Jeder Moment im Ramadân ist eine Gelegenheit, um zu Allâh zurückzukehren. Egal was wir momentan in unserem Leben durchmachen, so ist dies oftmals eine unmittelbare Folge unserer eigenen Taten. Wenn wir gedemütigt werden oder niedergeschlagen sind, dann sind es unsere eigenen Sünden, die uns erniedrigt haben. Einzig von Allâh können wir erhoffen, jemals erhöht zu werden. Wenn wir ständig nicht zum Morgengebet aufstehen können oder es zunehmend schwierig finden, uns von dem, was harâm ist, fernzuhalten, dann müssen wir unsere Beziehung zu Allâh überprüfen! Vor allem sollten wir uns niemals täuschen lassen! Wir sollten uns niemals selbst erlauben zu denken, dass irgendetwas in dieser Welt ohne Allâh gelingt, misslingt, gegeben wird, genommen wird, getan wird oder nicht getan wird! Einzig durch unsere Beziehung zu unserem Schöpfer steigen wir empor oder fallen wir – im Leben, in unserer Beziehung zu unseren Mitmenschen und zur gesamten Menschheit.

Doch anders als die Menschen grollt unser Schöpfer nicht. Stellt euch vor, ihr erhaltet eine saubere Schiefertafel! Stellt euch vor, dass alles, was ihr jemals bereut habt, vollständig gelöscht wird! Der Ramadân stellt diese Gelegenheit dar! Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) berichtete uns: „Wer im Ramadân aus aufrichtigem Glauben heraus und in der Hoffnung, Allâhs Belohnungen zu erlangen, fastet, dem werden all seine vergangenen Sünden vergeben“ (Al-Buchârî).

Wie können wir diese unvergleichliche Gelegenheit optimal nutzen? Zwei oft übersehene Angelegenheiten, die man beachten sollte, sind:

Wisset, warum ihr fastet!

Viele Menschen fasten aus Tradition, ohne die Bedeutung wirklich zu verstehen. Andere degradieren es zu einer einfachen Praktik, um Einfühlungsvermögen mit den Armen zu erlangen. Obwohl dies ein schöner Nebeneffekt des Fastens ist, stellt es nicht das von Allâh festgelegte Hauptziel dar. Allâh sagt im Qurân: „O die ihr glaubt, vorgeschrieben ist euch das Fasten, so wie es denjenigen vor euch vorgeschrieben war, auf dass ihr gottesfürchtig werden möget“ (Sûra 2:183). Indem wir unsere körperlichen Bedürfnisse beherrschen und bändigen, gewinnen wir Stärke für die größere Schlacht: Die Beherrschung und Bändigung unseres Egos. Wenn wir fasten, dann erinnert uns jedes Hungerstechen an Allâh – Denjenigen, für Den wir dieses Opfer erbringen. Indem wir ständig Allâhs gedenken und Ihm Opfer darreichen, wird uns Seine Anwesenheit bewusster, und auf diese Weise nimmt unsere Taqwâ (demütige Ehrfurcht gegenüber Allâh) zu. Dasselbe, was uns vor der Sünde bewahrt, ans Essen heranzuschleichen, während niemand etwas sieht, schult uns, andere Sünden zu unterlassen, während niemand etwas sieht. Dies bedeutet Taqwâ.

Macht das Fasten nicht lediglich zu Hunger und Durst!

Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: „Wer Falschaussagen und schlechte Taten nicht unterlässt, von dem benötigt Allâh es nicht, dass er sein Essen und Trinken unterlässt“ (Al-Buchârî). Der Prophet (möge Allah ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) warnte uns außerdem: „Viele Menschen, die fasten, haben nichts von ihrem Fasten außer Hunger und Durst. Und viele Menschen, die nachts beten, haben nichts davon außer Schlaflosigkeit“ (Ad-Dârimî). Versteht das Gesamtbild, während ihr fastet! Denkt daran, dass Fasten nicht lediglich Abstinenz von Essen bedeutet! Es geht darum, sich zu bemühen, ein besserer Mensch zu werden.

Und indem wir uns auf diese Weise bemühen, eröffnet sich uns eine Möglichkeit, der Dunkelheit unserer eigenen Entfernung von Allâh zu entkommen. Doch genauso wie die Sonne am Ende des Tages untergeht, so wird auch der Ramadân kommen und gehen und lediglich seinen Abdruck am Himmel unseres Herzens hinterlassen.

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